Deutscher Bundestag – 20. Wahlperiode – 30. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 27. April 2022
Tagespunkt 3, Zusatzpunkt 1: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: Wissenschaft warnt vor gravierenden Folgen des Klimawandels – IPCC fordert entschlossenes Handeln
Dr. Nina Scheer (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Situation des Klimawandels ist dramatisch. Damit die Temperatur nicht um mehr als 1,5 Grad, geschweige denn 2 Grad, gegenüber dem vorindustriellen Niveau steigt, müssen die globalen CO2-Emissionen spätestens in drei Jahren sinken. Für 1,5 Grad muss die Treibhausgasmenge schon 2030 um 43 Prozent gegenüber 2019 zurückgehen. Dem IPCC zufolge erhöht jedes Weniger an Maßnahmen das Risiko, die Wende für Jahrzehnte zum Stagnieren zu bringen. Es ist also ein Wettlauf mit der Zeit. Insofern ist es mit Blick auf den Klimaschutz nach dem Prinzip „Global denken und lokal handeln“ für uns ein zentrales Vorhaben der kommenden Wochen, die Hemmnisse zu beseitigen, die heute mit den aktuellen Rahmenbedingungen einem beschleunigten Umstieg im Weg stehen. Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen dürfen nicht Jahre dauern; sie dürfen höchstens Monate dauern.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Repowering muss eine Selbstverständlichkeit sein. Es müssen deutliche Vereinfachungen für Kommunen, für Landwirte, für Bürgerenergiegesellschaften und für weitere Akteure geschaffen werden. Das muss einfach selbstverständlich werden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Olaf in der Beek [FDP])
Hier muss auch in Richtung Europäische Kommission deutlich ausgesprochen werden: Gerade in diesen Zeiten kann es nicht sein, dass Maßnahmen zur Beschleunigung der Energiewende und damit des Klimaschutzes im beihilferechtlichen Notifizierungsverfahren hängen. Das kann nicht sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Europäischer Handlungsbedarf besteht zudem, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, bei der Umrüstung des Erdgasnetzes auf Wasserstoff. Wir laufen zurzeit in Parallelstrukturen hinein, die uns letztendlich auch eine soziale Schieflage bescheren können, wenn dann bei dem veralteten Netz nur noch wenige übrig bleiben. Auch das ist eine enorm große Herausforderung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Verhinderte Energiewende- und Klimaschutzmaßnahmen sind immer auch verhinderte Friedensoptionen. Auch die Energiepreissituation verlangt ebendiesen beschleunigten Umstieg auf erneuerbare Energien, auch wenn erst gestern Abend erneut eine Einigung auf Entlastungsmaßnahmen in der Ampelkoalition gelungen ist. Klar ist und bleibt: Wir haben eine Preiskrise, die unseren weltweiten Abhängigkeiten von fossilen Energieressourcen und nichts anderem geschuldet ist.
Zudem beschäftigen uns Auswirkungen – und die kommen obendrauf – des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und dessen Folgewirkungen auf unsere Energieversorgung. Neben der Loslösung von russischen Importen muss auch hier gelten: Wir brauchen den schnellstmöglichen Umstieg auf erneuerbare Energien, auch im Interesse von Energiesicherheit. Auch wenn es im Zeitalter der erneuerbaren Energien Importe geben wird, werden und dürfen sie keine neuen, einseitigen Importabhängigkeiten auslösen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Erneuerbare Energien sind überall verfügbar und werden durch immer fortschreitende Optimierung der sektorkoppelnden technischen Möglichkeiten auch immer günstiger und vielfältiger einsetzbar. Von 2010 bis 2019 sind die Kosten pro Einheit für Solarenergie um 85 Prozent gesunken, für Windenergie um 55 Prozent. Wir erleben allerdings zugleich, dass die Produktionsstätten seit Jahren aus Deutschland abwandern. Es sind uns über die letzten Jahre schon rund 100 000, wenn nicht sogar 130 000 Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien verloren gegangen. So kann es nicht weitergehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Hier muss aus der Perspektive einer Industrienation und eines Energiewendepionierlandes, das wir sind, dringend eine Kehrtwende eingeleitet werden, um Wertschöpfung zu sichern und Klimaschutz aktiv mitgestalten zu können. Deswegen arbeiten wir mit Hochdruck an einem Bündel von Gesetzen, dem Oster- und Sommerpaket. Die Umstellung der Energieversorgung ist dabei zwar keine abschließende – wir haben auch andere Bereiche; das ist klar –, aber eine notwendige Voraussetzung, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Auch dem G-7-Vorsitz Deutschlands kommt dabei natürlich eine herausragende Bedeutung zu. Ich möchte einmal kurz auf die Bedeutung des Außenhandels eingehen. Außenhandel muss in jeder Hinsicht Teil der Lösung und darf nicht Teil des Problems sein. Wenn aber Energiewende- und Klimaschutztechnologien verdrängt werden, da der Markt die Vermeidung von CO2 und andere Nachhaltigkeitsziele nicht ausreichend anerkennt, besteht auch hier Handlungsbedarf. Wir gehen das etwa mit dem Grenzausgleichsmechanismus an. Aber das ist nicht ausreichend; wir müssen weitere Maßnahmen ergreifen. Rahmenbedingungen zum grenzüberschreitenden Handeln müssen gewährleisten, dass Energiewende- und Klimaschutztechnologien keinen Nachteil, sondern einen Vorteil erfahren. Klimaschutz und Energiewende im internationalen wie im nationalen Kontext sind immer auch eine Gerechtigkeitsfrage. Die meisten Armutsrisiken werden in der Nichtverfügbarkeit von Energie bestehen.
Ich komme zum Schluss. Unsere Solidarität mit der Ukraine sollte bereits jetzt auch umfassen, dass eine Säule des Wiederaufbaus der Ukraine der Umstieg auf erneuerbare Energien in der Ukraine ist.
(Karsten Hilse [AfD]: Da jubeln die jetzt schon!)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Zur Rede in der Mediathek des Deutschen Bundestags